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I. Der Ritter steckt in der Klemme

Vor langer Zeit lebte einst in einem fernen Land ein Ritter, der sich für gut, freundlich und liebevoll hielt. Er tat all die Dinge, die gute, freundliche und liebevolle Ritter tun.
Er kämpfte gegen Feinde, die böse, gemein und gehässig waren. Er tötete Drachen und befreite schöne Burgfräulein aus ihrer Not. Wenn das Rittergewerbe einmal nicht so gut lief, hatte er die lästige Angewohnheit, sogar Burgfräulein zu befreien, die gar nicht befreit werden wollten, und so waren ihm zwar viele edle Damen dankbar, ebenso viele waren aber auch wütend auf ihn.
Diesen Umstand nahm er jedoch mit philosophischer Gelassenheit hin. Schließlich kann man es nicht allen recht machen.
Dieser Ritter war berühmt wegen seiner Rüstung. Sie glänzte so strahlend, daß die Dorfbewohner jedesmal schworen, sie hätten die Sonne im Norden auf- oder im Osten untergehen sehen, wenn der Ritter auszog, um in die Schlacht zu reiten. Und er zog oft aus, um in die Schlacht zu reiten. Sobald ein Kreuzzug auch nur erwähnt wurde, legte er eifrig seine glänzende Rüstung an, stieg auf sein Pferd und ritt in irgendeine Richtung davon. Er war sogar derart eifrig, daß er manchmal in mehrere Richtungen gleichzeitig davonritt, und das war keine geringe Leistung.
Jahrelang war dieser Ritter bestrebt, der allerbeste Ritter im ganzen Königreich zu werden. Immer wieder fand er neue Schlachten, die gewonnen, Drachen, die getötet, und Burgfräulein, die befreit werden mußten.
Dieser Ritter hatte eine treue und gewissermaßen nachsichtige Frau, die Juliet hieß, wunderschöne Gedichte schrieb, kluge Dinge sagte und eine Schwäche für Wein hatte. Und er hatte auch einen kleinen Sohn, der Christopher hieß, goldenes Haar hatte und der, wie sein Vater hoffte, eines Tages ein tapferer Ritter sein würde.
Juliet und Christopher bekamen den Ritter nicht oft zu sehen, denn wenn er gerade einmal nicht in einer Schlacht kämpfte, einen Drachen tötete, oder ein Burgfräulein befreite, war er damit beschäftigt, seine Rüstung anzuprobieren und zu bewundern, wie sie glänzte. Mit der Zeit verliebte sich der Ritter bis über beide Ohren in seine Rüstung, so daß er sogar anfing, sie zu den Mahlzeiten zu tragen und oftmals auch im Bett. Irgendwann wollte er sie dann gar nicht mehr ablegen. Nach und nach vergaß seine Familie, wie er eigentlich ohne Rüstung aussah.
Hin und wieder fragte Christopher seine Mutter, wie sein Vater aussehe. Dann führte Juliet den Jungen zum Kamin, zeigte auf ein Porträt des Ritters darüber und seufzte: „Das ist dein Vater.“
Eines Nachmittags, als sie wieder einmal das Bild betrachteten, sagte Christopher zu seiner Mutter: „Ich wünschte, ich könnte Vater persönlich sehen.“
„Man kann nicht alles haben!“ fuhr Juliet ihn an, denn sie hatte langsam keine Lust mehr, sich ein Gemälde anzuschauen, wenn sie sich an das Gesicht ihres Mannes erinnern wollte, und sie war es leid, nachts vom Scheppern seiner Rüstung aus dem Schlaf gerissen zu werden.
War er einmal zu Hause und nicht vollauf mit seiner Rüstung beschäftigt, hielt der Ritter für gewöhnlich lang anhaltende Reden über seine Heldentaten. Juliet und Christopher kamen dabei nur selten zu Wort. Wenn sie doch einmal eines einwerfen konnten, wehrte der Ritter es ab, indem er entweder sein Visier herunterklappte oder urplötzlich einschlief.
Eines Tages stellte Juliet ihren Mann zur Rede. „Ich glaube, du liebst deine Rüstung mehr als mich.“
„Das ist nicht wahr“, antwortete der Ritter. „Habe ich dich nicht genug geliebt, um dich von dem Drachen zu befreien und dich in diesem schönen Schloß mit Steinfußboden unterzubringen?“
„In Wahrheit“, sagte Juliet, wobei sie durch sein Visier schielte, damit sie seine Augen sehen konnte, „hast du nur die Vorstellung geliebt, mich zu befreien. Du hast mich damals nicht wirklich geliebt, und du liebst mich auch heute nicht wirklich.“
„Natürlich liebe ich dich!“ Und zur Bekräftigung seiner Worte umarmte der Ritter Juliet ungeschickt mit seiner kalten, steifen Rüstung und brach ihr dabei fast die Rippen.
„Dann leg diese Rüstung ab, damit ich sehen kann, wer du wirklich bist!“ forderte sie.
„Ich kann sie nicht ablegen. Ich muß jederzeit bereit sein, auf mein Pferd zu steigen und in irgendeine Richtung davonzureiten“, erklärte der Ritter.
„Wenn du diese Rüstung nicht ablegst, nehme ich Christopher, steige auf mein Pferd und reite aus deinem Leben.“
Nun, das traf den Ritter wirklich sehr hart.
Er wollte nicht, daß Juliet wegging. Er liebte seine Frau und seinen Sohn und sein schönes Schloß, aber seine Rüstung liebte er auch, denn sie zeigte allen, wer er war – ein guter, freundlicher und liebevoller Ritter.
Warum nur konnte Juliet dies nicht erkennen?
Der Ritter war völlig verwirrt. Schließlich traf er eine Entscheidung. Nur zu gern hätte er die Rüstung anbehalten, aber sie war es nicht wert, daß er ihretwegen Juliet und Christopher verlor.
Widerstrebend hob der Ritter die Arme und versuchte, seinen Helm abzunehmen, doch der gab nicht nach! Er zog kräftiger. Der Helm lockerte sich nicht. Entsetzt versuchte der Ritter, das Visier hochzuklappen, doch auch das klemmte. Immer wieder zerrte der Ritter an dem Visier, aber nichts geschah.
In großer Aufregung schritt der Ritter auf und ab. Wie hatte das nur geschehen können? Vielleicht war es nicht so überraschend, daß der Helm klemmte, denn er hatte ihn seit Jahren nicht mehr abgenommen, doch mit dem Visier war es etwas anderes. Das hatte er zum Essen und Trinken regelmäßig geöffnet. Ja, heute morgen noch, beim Frühstück aus Rühreiern und Spanferkel, hatte er es hochgeklappt.
So schnell er konnte, lief der Ritter zur Werkstatt des Hufschmiedes im Burghof. Als er ankam, formte dieser gerade ein Hufeisen mit bloßen Händen.
„Schmied“, sagte der Ritter, „ich habe ein Problem.“
„Ihr seid ein Problem, werter Herr“, witzelte der Schmied, taktvoll wie immer.
Der Ritter, der sonst jederzeit für einen Scherz zu haben war, machte ein finsteres Gesicht. „Ich bin nicht in Stimmung für deine Sticheleien. Ich stecke in dieser Rüstung fest“, brüllte er und stampfte mit seinem eisengepanzerten Fuß auf.
Dabei trat er aus Versehen dem Schmied auf den großen Zeh.
Der Schmied heulte auf, vergaß für einen Augenblick, daß der Ritter sein Herr war und versetzte ihm einen kräftigen Schlag auf den Helm. Der Ritter verspürte lediglich ein leichtes Unbehagen. Der Helm aber gab nicht nach.
„Versuch es noch einmal“, befahl der Ritter.
„Mit Vergnügen.“ Der Schmied nahm einen Hammer, schwang ihn kraftvoll und ließ ihn auf den Helm hinuntersausen. Aber der Schlag hinterließ noch nicht einmal eine Delle.
Der Ritter war der Verzweiflung nahe. Der Schmied war bei weitem der stärkste Mann im Königreich. Wenn er den Ritter nicht aus seiner Rüstung befreien konnte, wer dann?
Der Schmied, der ein freundlicher Mann war, wenn ihm nicht gerade der große Zeh zerquetscht wurde, spürte die Angst des Ritters und bekam Mitleid. „Eure Not ist bitter, Herr. Aber gebt nicht auf. Kommt morgen in aller Frühe wieder, da bin ich ausgeruht. Ihr habt mich am Ende eines schweren Tages erwischt.“
Das Essen bereitete dem Ritter an jenem Abend große Schwierigkeiten. Juliet wurde immer ärgerlicher, während sie dem Ritter das pürierte Essen häppchenweise durch die Löcher im Visier drückte. Zwischendurch erzählte der Ritter Juliet, daß der Schmied versucht hätte, die Rüstung zu spalten, und daß es ihm nicht gelungen war.
„Ich glaube dir kein Wort, du scheppernder Klotz!“ schrie Juliet und knallte dem Ritter den halbvollen Teller mit Taubeneintopf auf den Helm.
Der Ritter spürte nichts. Erst als vor den Augenlöchern in seinem Visier Soße heruntergetropft kam, wurde ihm bewußt, daß er einen Schlag auf den Kopf bekommen hatte. Auch vom Hammerhieb des Schmiedes am Nachmittag, hatte er kaum etwas gemerkt. Wenn er es sich recht überlegte, hielt ihn seine Rüstung davon ab, überhaupt noch viel zu spüren, und er trug sie schon so lange, daß er vergessen hatte, wie sich die Dinge ohne sie anfühlten.
Daß Juliet ihm nicht glauben wollte, kränkte den Ritter. Er und der Schmied hatten doch wirklich versucht, die Rüstung herunterzubekommen. Auch in den nächsten Tagen mühte sich der Schmied, doch ohne Erfolg. Mit jedem Tag wurde der Ritter mutloser und Juliet kälter.
Schließlich mußte der Ritter sich eingestehen, daß die Bemühungen des Schmiedes vergeblich waren. „Der stärkste Mann im Königreich, daß ich nicht lache! Du kannst ja noch nicht einmal diesen Schrotthaufen aufbrechen.“
Als der Ritter heimkam, kreischte Juliet ihn an. „Dein Sohn hat nichts als ein Gemälde zum Vater, und ich bin es leid, mit einem geschlossenen Visier zu sprechen. Ich werde nie wieder Essen durch die Löcher von diesem verflixten Ding drücken. Ich habe zum allerletzten Mal ein Lammkotelett püriert!“
„Ich kann doch nichts dafür, daß ich in dieser Rüstung gefangen bin! Ich mußte sie doch tragen, um jederzeit in die Schlacht ziehen zu können. Wie hätte ich denn sonst für dich und Christopher schöne Schlösser und Pferde kaufen sollen?“
„Das hast du nicht für uns getan“, widersprach Juliet. „Für dich selbst hast du es getan!“
Der Ritter war zutiefst betrübt darüber, daß seine Frau ihn nicht mehr zu lieben schien. Außerdem fürchtete er, daß Juliet und Christopher ihn tatsächlich verlassen würden, wenn er nicht bald seine Rüstung loswurde. Doch er wußte nicht, wie er das anstellen sollte. Der Ritter tat eine Idee nach der anderen als undurchführbar ab. Einige seiner Pläne waren reichlich gefährlich, und ihm wurde klar, daß ein Ritter, der auch nur daran dachte, sich seine Rüstung mit einer Fackel abzuschmelzen, oder sie abzufrieren, indem er in einen Burggraben mit eiskaltem Wasser sprang, oder sie mit einer Kanone abzusprengen, dringend Hilfe brauchte. Da es im ganzen Königreich aber offenbar niemanden gab, der ihm hätte helfen können, beschloß der Ritter, in anderen Ländern zu suchen. Irgendwo mußte es doch irgend jemanden geben, der ihm helfen konnte, sich aus dieser Rüstung zu befreien.
Natürlich würde er Juliet und Christopher vermissen und sein schickes Schloß. Er fürchtete auch, daß Juliet in seiner Abwesenheit bei einem anderen Ritter Liebe finden könnte, bei einem, der bereit war, vor dem Zubettgehen seine Rüstung abzulegen und Christopher ein guter Vater zu sein. Nichtsdestotrotz mußte der Ritter fort, und so stieg er eines frühen Morgens auf sein Pferd und ritt davon. Er wagte nicht zurückzuschauen, aus Angst, er könnte es sich anders überlegen.
Bevor er das Königreich verließ, machte der Ritter noch einmal Halt, um dem König, der immer sehr gut zu ihm gewesen war, auf Wiedersehen zu sagen. Der König lebte in einem prachtvollen Schloß, das oben auf einem Berg stand. Als der Ritter über die Zugbrücke in den Burghof ritt, sah er dort den Hofnarren im Schneidersitz hocken. Er spielte auf einer Schalmei.
Der Narr wurde Glückssack genannt, denn über der Schulter trug er einen wunderschönen, regenbogenfarbenen Sack, und in diesem Sack hatte er viele Dinge, mit denen er die Menschen zum Lachen oder zum Lächeln bringen konnte. Er hatte seltsame Karten, mit denen er den Leuten die Zukunft vorhersagte, leuchtend bunte Perlenschnüre, die er verschwinden und wieder auftauchen ließ, und lustige kleine Marionetten, die er benutzte, um sein Publikum lachend zu beleidigen.
„Hallo, Glückssack“, sagte der Ritter. „Ich bin gekommen, um dem König Lebewohl zu sagen.“
Der Narr sah ihn an.
„Der König ist auf und davon gegangen, da könnt Ihr lang warten mit Euren Belangen.“
„Wo ist er denn hin?“ fragte der Ritter.
„Zum Kreuzzug ist er aufgebrochen, hat lang schon mit keinem hier gesprochen.“
Der Ritter war enttäuscht, weil er den König verpaßt hatte, und bedrückt, weil er ihn nicht auf seinem Kreuzzug begleiten konnte.
„Ach“, seufzte er, „bis der König zurückkommt, bin ich in dieser Rüstung vielleicht schon verhungert. Bestimmt sehe ich ihn nie wieder.“
Nur allzu gern wäre der Ritter im Sattel zusammengesackt, aber natürlich ließ seine Rüstung das nicht zu.
„Ihr macht ’ne klägliche Figur, wo bleibt denn Eure Macht jetzt nur?“
„Ich bin nicht in der Stimmung für deine beleidigenden Reime“, bellte der Ritter und spannte jeden Muskel an. „Kannst du nicht ein einziges Mal die Probleme eines anderen ernst nehmen?“
Glückssack sang mit klarer, wohlklingender Stimme:
„Ein Problem zu beweinen, bringt mich nicht weiter. Ich mach was draus und nehm es heiter.“
„Du würdest ganz anders reden, wenn du derjenige wärst, der in dieser Rüstung feststeckt.“
„Feststecken tun wir doch irgendwie alle, nur Ihr sitzt in einer sichtbaren Falle.“
Ich habe keine Zeit, hier zu stehen und mir diesen Unsinn anzuhören. Ich muß einen Weg finden, aus dieser Rüstung herauszukommen.“
Mit diesen Worten trieb der Ritter sein Roß vorwärts, doch Glückssack rief ihm nach:
„Ich kenne einen, dem könnt es gelingen, Euer wahres Ich ans Licht zu bringen.“
Der Ritter zügelte sein Pferd und kehrte um.
„Du kennst jemanden, der mir aus dieser Rüstung heraushelfen kann? Wer ist es?“
„Merlin, der Zauberer ist der Mann, der Euch zur Freiheit verhelfen kann.“
„Merlin? Der einzige Merlin, von dem ich je gehört habe, ist der große und weise Lehrer von König Artus.“
„Ja, richtig, das hat ihn berühmt gemacht. An diesen Merlin hatte ich gedacht.“
„Aber das ist unmöglich! Merlin und Artus haben vor langer Zeit gelebt!“
„Glaubt’s mir, er lebt und ist gesund, dort drüben im Wald wohnt der Weise zur Stund.“
„Aber der Wald ist so groß“, sagte der Ritter. „Wie soll ich ihn dort finden?“
Glückssack lächelte.
„Ich kann’s Euch nicht sagen, doch laßt mich verkünden: Ist der Schüler bereit, wird der Lehrer ihn finden.“
„Ich kann nicht warten, bis Merlin von allein auftaucht. Ich werde nach ihm suchen.“ Dankbar ergriff der Ritter Glückssacks Hand und schüttelte sie. Dabei zerquetschte er dem Narren beinahe die Finger mit seinem Panzerhandschuh.
Glückssack schrie auf. Schnell ließ der Ritter die Hand des Narren los. „Tut mir leid.“
Glückssack rieb sich die schmerzenden Finger.
„Ist’s erst einmal runter, das Eisenkleid, fühlt Ihr auch andrer Leute Leid.“
„Ich muß los!“
Der Ritter riß sein Pferd herum und galoppierte davon. Mit neuer Hoffnung im Herzen machte er sich auf die Suche nach Merlin.

Quelle: Stendel Verlag.

1. KAPITEL
Der Tag, an dem ich starb, hat nicht wirklich Spaß gemacht.
Und das lag nicht nur an meinem Tod. Um genau zu sein :
Der schaffte es gerade so mit Ach und Krach auf Platz sechs
der miesesten Momente des Tages. Auf Platz fünf landete
der Augenblick, in dem Lilly mich aus verschlafenen Augen
ansah und fragte : « Warum bleibst du heute nicht zu Hause,
Mama ? Es ist doch mein Geburtstag ! »
Auf diese Frage schoss mir folgende Antwort durch den
Kopf : « Hätte ich vor fünf Jahren gewusst, dass dein Geburtstag
und die Verleihung des Deutschen Fernsehpreises mal
auf einen Tag fallen würden, hätte ich dafür gesorgt, dass
du früher zur Welt gekommen wärst. Mit Kaiserschnitt ! »
Stattdessen sagte ich nur leise zu ihr : « Es tut mir leid,
mein Schatz. » Lilly knabberte traurig am Ärmel ihres Pumuckl-
Pyjamas, und da ich diesen Anblick nicht länger ertragen
konnte, fügte ich schnell den magischen Satz hinzu, der
jedes traurige Kindergesicht wieder zum Lächeln bringt :
« Willst du dein Geburtstagsgeschenk sehen ? »
Ich hatte es selbst noch nicht gesehen. Alex musste es besorgen,
da ich vor lauter Arbeit in der Redaktion schon seit
Monaten nicht mehr irgendwo einkaufen war. Ich vermisste
das auch nicht. Für mich gab es kaum etwas Nervigeres als
in der Supermarktschlange wertvolle Lebenszeit zu vergeuden.
Und für all die schönen Dinge des Lebens, von Kleidung
über Schuhe bis hin zu Kosmetika, musste ich nicht einkaufen
gehen. Die bekam ich dankenswerterweise als Kim Lange,
Moderatorin von Deutschlands wichtigster Polit-Talkshow,
von den nobelsten Firmen gestellt. Die « Gala » zählte mich
dementsprechend zu den « bestangezogenen Frauen um die
dreißig », während eine andere große Boulevardzeitung mich
weniger schmeichelhaft als « leicht stämmige Brünette mit
deutlich zu dicken Schenkeln » bezeichnete. Ich lag mit der
Zeitung im Clinch, weil ich verboten hatte, Fotos von meiner
Familie abzudrucken.
« Hier ist eine kleine, wunderschöne Frau, die will ihr Geschenk
haben », rief ich durchs Haus. Und aus dem Garten
tönte es zurück : « Dann soll diese wunderschöne kleine Frau
mal herauskommen ! » Ich nahm meine aufgeregte Tochter an
die Hand und sagte zu ihr : « Zieh dir aber deine Hausschühchen
an. »
« Ich will die nicht anziehen », motzte Lilly.
« Du erkältest dich sonst ! », warnte ich. Aber sie antwortete
nur : « Ich hab mich gestern auch nicht erkältet. Und da
hatte ich auch keine Hausschuhe an. »
Und eh ich ein vernünftiges Gegenargument für diese abstruse,
aber in sich geschlossene Kinderlogik gefunden hatte,
lief Lilly auch schon barfuß in den vom Morgentau glänzenden
Garten.
Geschlagen folgte ich ihr und atmete tief ein. Es roch nach
« bald ist Frühling », und ich freute mich zum tausendsten Mal
mit einer Mischung aus Verblüffung und Stolz darüber, dass
ich meiner Tochter so ein tolles Potsdamer Haus mit einem
Riesengarten bieten konnte, war ich doch selbst in einem
Berliner Plattenbau aufgewachsen. Unser Garten dort hatte
lediglich aus drei Blumenkästen bestanden, bepflanzt mit Geranien,
Stiefmütterchen und Zigarettenkippen.
Alex erwartete Lilly an einem von ihm selbst zusammengezimmerten
Meerschweinchenkäfig. Er sah mit seinen dreiunddreißig
Jahren immer noch verdammt gut aus – wie
eine jüngere Version von Brad Pitt, nur dankenswerterweise
ohne dessen langweiligen Schlafzimmerblick. Ich wäre wohl
von seinem Aussehen hin und weg gewesen, wenn noch alles
okay zwischen uns gewesen wäre. Doch leider war unsere Beziehung
zu diesem Zeitpunkt so stabil wie die Sowjetunion
1989. Und sie hatte ähnlich viel Zukunft.
Alex kam nicht damit klar, mit einer erfolgreichen Frau
verheiratet zu sein, und ich nicht damit, mit einem frustrierten
Hausmann zusammenzuleben, den es von Tag zu Tag
fertiger machte, dass er sich auf dem Spielplatz von anderen
Müttern anhören musste : « Es ist ja sooo toll, wenn ein
Mann sich um die Kinder kümmert, anstatt dem Erfolg hinterherzujagen.
»
Entsprechend begannen Gespräche zwischen uns oft mit
« Deine Arbeit ist dir wichtiger als wir » und endeten noch
häufiger mit « Wehe, du wirfst jetzt den Teller, Kim ! ».
Früher folgte darauf wenigstens noch Versöhnungssex.
Jetzt hatten wir schon seit drei Monaten keinen mehr. Was
schade war, denn unser Sex war ordentlich bis großartig, je
nach Tagesform. Und das will was heißen, denn mit all den
Männern, die ich vor Alex hatte, war Sex nicht gerade ein
Anlass gewesen, die innere La-Ola-Welle zu machen.
« Hier ist dein Geschenk, wunderschönes Mädchen », sagte
Alex lächelnd und zeigte auf das mümmelnde Meerschweinchen
im Stall. Lilly rief begeistert : « Ein Meerschweinchen ! »
Und ich ergänzte entsetzt in Gedanken : « Ein verdammt
schwangeres Meerschweinchen ! »
Während Lilly ihr neues Haustier voller Freude betrachtete,
packte ich Alex an der Schulter und zog ihn zur Seite.
« Das Vieh ist kurz davor, sich zu vermehren », sagte ich
zu ihm.
« Nein, Kim, es ist nur etwas dick », wiegelte er ab.
« Wo hast du es denn her ? »
« Von einer gemeinnützigen Tierfarm », kam die pampige
Antwort.
« Warum hast du es denn nicht in einem Zooladen gekauft
? »
« Weil die Tiere da genauso am Rad drehen wie deine Fernsehtypen.
»
Peng ! Das sollte mich treffen, und das tat es auch. Ich atmete
durch, schaute auf die Uhr und sagte mit gepresster
Stimme : « Keine dreißig Sekunden. »
« Wie ‹keine dreißig Sekunden› ? », fragte Alex irritiert.
« Du hast keine dreißig Sekunden mit mir geredet, ohne
mir Vorwürfe zu machen, dass ich heute zu der Verleihung
gehe. »
« Ich mach dir keine Vorwürfe, Kim. Ich stell nur deine
Prioritäten in Frage », erwiderte er.
Das alles regte mich wahnsinnig auf, denn eigentlich
hätte ich mir doch gewünscht, dass er mit zu der Fernsehpreis-
Verleihung kommen würde. Schließlich sollte das der
größte Moment in meinem Berufsleben werden. Und da
hätte mein Mann verdammt nochmal an meine Seite gehört !
Aber ich konnte ja schlecht seine Prioritäten in Frage stellen,
denn die bestanden ja darin, Lillys Kindergeburtstag auszurichten.
Und so sagte ich sauer : « Und das blöde Meerschweinchen
ist doch schwanger ! »
Alex erwiderte trocken : « Mach doch einen Schwangerschaftstest
», und ging zum Käfig. Ich blickte ihm wütend
nach, während er das Meerschweinchen rausholte und es der
überglücklichen Lilly in die Arme legte. Die beiden fütterten
es mit Löwenzahn. Und ich stand daneben. Gewissermaßen
im Abseits, das mehr und mehr zu meinem Stammplatz
in unserer kleinen Familie wurde. Kein schöner Ort.
Und hier im Abseits musste ich an meinen eigenen Schwangerschaftstest
zurückdenken. Als meine Regel damals ausblieb,
schaffte ich es sechs Tage lang mit fast übermenschlicher
Verdrängungskraft, diese Tatsache zu ignorieren. Am
siebten sprintete ich gleich morgens mit einem « Scheiße,
Scheiße, Scheiße » auf den Lippen in die Apotheke, kaufte
einen Schwangerschaftstest, sprintete zurück nach Hause,
ließ den Test vor lauter Nervosität ins Klo fallen, rannte wieder
zur Apotheke, kaufte einen neuen Test, rannte erneut
zurück, pinkelte auf das Stäbchen und musste eine Minute
warten.
Es war die längste Minute meines Lebens.
Eine Minute beim Zahnarzt ist ja schon lang. Eine Minute
Musikantenstadl ist noch länger. Aber die Minute, die
so ein blöder Schwangerschaftstest braucht, um sich zu entscheiden,
ob er nun einen zweiten Strich haben wird oder
nicht, ist die härteste Geduldsprobe der Welt.
Noch härter war es aber für mich, den zweiten Strich zu
sehen.
Ich überlegte abzutreiben, aber ich konnte den Gedanken
daran kaum ertragen. Ich hatte gesehen, wie meine beste
Freundin Nina das mit neunzehn Jahren nach unserem Italienurlaub
tun musste und wie sehr sie dabei gelitten hatte.
Mir war durchaus klar, dass ich bei aller Härte, die ich mir
als Talkshow-Moderatorin angewöhnt hatte, mit diesen Gewissensqualen
viel schlechter klarkommen würde als Nina.
Es folgten also neun Monate, die mich sehr verunsicherten
: Während ich Panik schob, kümmerte sich Alex extrem
lieb um mich und freute sich unglaublich auf das Kind. Das
machte mich irgendwie wütend, fühlte ich mich dadurch
doch umso mehr als Rabenschwangere.
Überhaupt war für mich der ganze Schwangerschaftsprozess
unheimlich abstrakt. Ich sah Ultraschallaufnahmen und
fühlte Tritte gegen die Bauchwand. Aber dass da ein kleiner
Mensch in mir wuchs, konnte ich nur in ganz wenigen, kurzen
Momenten des Glücks begreifen.
Die meiste Zeit war ich damit beschäftigt, mich mit Übelkeiten
und Hormonschwankungen herumzuschlagen. Und
mit Schwangerschaftskursen, in denen man « seinen Uterus
abspüren » sollte.
Sechs Wochen vor der Geburt hörte ich auf zu arbeiten
und bekam auf unserem Sofa einen Eindruck davon, wie
sich gestrandete Wale fühlen mussten. Die Tage waren zäh,
und als meine Fruchtblase platzte, wäre ich vielleicht sogar
erleichtert gewesen, dass es endlich losging, hätte ich nicht
gerade in der Kassenschlange im Supermarkt gestanden.
Ich legte mich, wie von meinem Arzt für einen solchen
Fall angeordnet, sofort auf den kalten Boden. Die umstehenden
Kunden kommentierten das mit Sätzen wie : « Ist das
nicht Kim Lange, die olle Moderatorin ? », « Mir egal, Hauptsache,
die machen noch ’ne zweite Kasse auf ! » und « Bin ich
froh, dass ich den Schweinkram nicht wegwischen muss. »
Der Krankenwagen kam erst nach dreiundvierzig Minuten,
in denen ich ein paar Autogramme gab und der Kassiererin
erklären musste, dass sie ein falsches Bild von männlichen
Nachrichtensprechern hatte. (« Nein, die sind nicht
alle schwul. »)
Im Kreißsaal angekommen, begann eine fünfundzwanzigstündige
Geburt. Die Hebamme spornte mich zwischen den
fürchterlichen Wehen ständig an : « Sei positiv. Heiß jede
Wehe willkommen ! » Und ich dachte mir im Schmerzenswahn
: « Wenn ich das hier überleb, bring ich dich um, du
blöde Schnepfe ! »
Ich glaubte, ich müsste sterben. Ohne Alex und seine beruhigende
Art hätte ich es wohl kaum durchgestanden. Er wiederholte
immer wieder mit fester Stimme : « Ich bin bei dir.
Immer ! » Und ich quetschte seine Hand dabei so fest, dass er
sie noch Wochen später nicht richtig bewegen konnte. (Die
Schwestern verrieten mir nachher, dass sie immer Noten vergeben,
wie liebevoll Männer sich in den Stressstunden der
Geburt gegenüber ihren Frauen verhalten. Alex erreichte
eine sensationelle 9,7. Der allgemeine Notendurchschnitt
lag bei 2,73.)
Als die Ärzte mir nach all der Qual die kleine – von der
Geburt ganz zerknautschte – Lilly auf den Bauch legten, waren
alle Schmerzen vergessen. Ich konnte sie nicht sehen, da
mich die Ärzte noch versorgten. Aber ich spürte ihre weiche,
faltige Haut. Und dieser Augenblick war der glücklichste in
meinem ganzen Leben.
Nun, fünf Jahre später, stand Lilly im Garten vor mir,
und ich konnte ihren Geburtstag nicht mitfeiern, weil ich
zu der Fernsehpreis-Verleihung nach Köln musste.
Ich schluckte und ging schweren Herzens zu meiner Kleinen,
die sich gerade einen Namen für das Meerschweinchen
ausdachte (« Entweder heißt es Pipi, Püpschen oder Barbara
»). Ich gab ihr ein Küsschen und versprach : « Ich verbringe
morgen den ganzen Tag mit dir. »
Alex kommentierte das abfällig : « Wenn du deinen Preis
gewinnst, gibst du doch morgen die ganze Zeit Interviews. »
« Dann verbring ich eben den Montag mit Lilly », erwiderte
ich angefressen.
« Da hast du Redaktionssitzung », konterte Alex.
« Dann lass ich die eben sausen. »
« Sehr wahrscheinlich », sagte er mit einem sarkastischen
Grinsen, das bei mir den tiefen Wunsch auslöste, ihm eine
Dynamitstange in den Mund zu stopfen. Er krönte das
Ganze mit : « Du hast nie Zeit für die Kleine. »
Als Lilly das hörte, sagten ihre traurigen Augen : « Papa
hat recht. » Das traf mich bis ins Mark. So sehr, dass ich zitterte.
Verunsichert streichelte ich Lilly über die Haare und
sagte : « Ich schwör dir hoch und heilig, wir werden uns bald
einen ganz tollen Tag machen. »
Sie lächelte schwach. Alex wollte etwas sagen, aber ich
blickte ihn so durchdringend an, dass er sich das schlauerweise
anders überlegte. Höchstwahrscheinlich konnte er
die Dynamitstangen-Phantasie in meinen Augen lesen. Ich
drückte Lilly nochmal fest an mich, ging über die Terrasse*
ins Haus, atmete einmal kräftig durch und bestellte mir ein
Taxi zum Flughafen.
Zu diesem Zeitpunkt ahnte ich noch nicht, wie schwer es
werden würde, meinen Schwur gegenüber Lilly zu erfüllen.

* Aus Casanovas Erinnerungen : In meinem hundertunddreizehnten
Leben als Ameise begab ich mich mit einer Kompanie an die Erdoberfläche.
Wir sollten im Auftrag der Königin das Terrain rund um unser Reich
erkunden. Wir marschierten durch die sengende Hitze auf heißem, sonnenerwärmtem
Gestein, da verfinsterte sich binnen Sekunden die Sonne
auf fast schon apokalyptische Art und Weise. Meine Augen spähten gen
Himmel, und ich erblickte die Sohle einer Frauensandale, die sich unaufhaltsam
auf uns herabsenkte. Es war so, als fiele uns der Himmel auf den
Kopf. Und ich dachte bei mir : « Schon wieder muss ich sterben, weil ein
Mensch nicht angemessen auf seine Schritte achtet. »

Leseprobe unter www.rowohlt.de

21 Jahre alt, Diagnose: Krebs. Als Sophie van der Stap bei der Chemotherapie alle Haare verliert, kauft sie sich neun Perücken, entdeckt die Lust, sich in sehr unterschiedlichen Frauenrollen neu zu inszenieren – und schreibt ein Buch darüber. mobil präsentiert Auszüge.
»Sorry«, sage ich, als ich die Haare hinter mir auf dem Parkett sehe. »Das geht auf einmal so schnell.«
Die Frau sieht mich im Spiegel an. Ich habe Fotos von mir mitgebracht, um ihr zu zeigen, wie ich die Haare am liebsten trage. Es sind die Fotos, die Martin vor drei Wochen gemacht hat, als ich noch meine eigenen Haare hatte. Seit meine Haarzellen den Kampf gegen die Chemo verlieren, sehe ich dem Mädchen auf den Bildern immer weniger ähnlich. Sie liegen auf dem Tisch, zwischen einem Perückenprospekt und einem gelbblonden Haarschopf, den die Frau mir eben gebracht hat. Vielleicht etwas in der Art? Ganz bestimmt nicht. Alle diese Frisuren machen mich zu einem Transvestiten, und als die Frau zu einer Perücke aus langen, dunklen Haaren greift, muss ich an den Gitarristen von Guns N’ Roses denken, nur dass die Mähne auf meinem eigenen Kopf sitzt. Grauenhaft.
Der Perückenladen liegt in der Eingangshalle des AMC, des Akademisch Medisch Centrum in Amsterdam; im ersten Stock ist eine Kabine zum Anprobieren. Schön bequem für die Onkologiepatienten, die können nach der Infusion direkt dorthin. Neben mir sitzen meine Mutter, meine Schwester und Annabel, meine beste Freundin. Wir fühlen uns unbehaglich und sind alle ziemlich still, doch dann probiert Annabel eine der Perücken auf, und die Spannung löst sich. Sie sieht unmöglich aus. Wir müssen laut lachen. Ich betrachte meine Schwester mit ihrer dunklen Hochfrisur. Toll sieht sie aus. Wie ich trägt sie ihr Haar am liebsten hinten hochgesteckt, mit einer leichten Welle vorn. Ich betrachte Annabels dichte schwarze Haare und dann wieder das glänzende Haar meiner Schwester, die Kurzhaarfrisur meiner Mutter und schließlich die Bü schel, die bei mir noch übrig sind. Die letzten drei Wochen ziehen im Schnelldurchlauf an mir vorüber, und ich begreife immer noch nicht, was ich hier soll. Was ich hier soll. Ich will weg, mich verstecken in der Geborgenheit meiner vier Wände. Nicht nur vor meiner Krankheit, sondern auch vor den Reaktionen der anderen, die nur bestätigen, was ich vergessen will. Nachbarn, die mich mitleidig ansehen. Gemüsehändler, die mir eine Extratüte Vitamine in den Einkaufskorb packen. Freunde, die mich fest in den Arm nehmen. Meine Familie, die mit mir weint. Mit nassen Augen schaue ich in den Spiegel und lasse die Frau mit meinen neuen Haaren spielen. Von meinen vollen Lippen ist nur noch ein bestürzter Strich übrig, quer durch mein Gesicht. Je länger die Frau an meinen Haaren herumzupft, desto dünner wird der Strich und desto verzweifelter werde ich. Ich sehe einfach unmöglich aus. Soeben bin ich mir im Spiegel abhandengekommen.
Endlich verlasse ich die Kabine, mit einem Muttchenkopf, der nicht meiner ist. Es sieht potthässlich aus, und es juckt. Das ist keine Sophie mehr, nicht mal annähernd, das ist eine steife, langweiligealte Jungfer aus einem steifen, langweiligen Ort wie Wassenaar. Die Frau redet mir aufmunternd zu. »Du musst dich erst damit anfreunden. Das geht nicht von heute auf morgen. Spiel ein bisschen damit, probier es aus, und in zwei Wochen bist das ganz du.« Jaja. Ganz ich. Ich – eine steife alte Jungfer? Ich – eine Stella?

Quelle: Droemer/Knaur

Eine ausführlichere Leseprobe gibts beim Verlag.

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